Im Juni fiel eine 29 Jahre alte Frau im Ostallgäu etwa 40 Meter in die Tiefe und starb. Im Juli stürzte ein 54-Jähriger am österreichischen Zimbajoch vor den Augen seiner Wandergruppe in den Tod. Ebenfalls im Juli verunglückte eine 56-jährige Frau aus Tübingen bei einem Kletterunfall am Schmalstöckli in der Schweiz. Und nur wenige Tage später stürzte ein 30-jähriger Deutscher bei einer Bergtour in Norditalien 200 Meter tief.
Es sind Nachrichten, die für Bergretter zum Berufsalltag gehören. Aktuelle Zahlen zu tödlichen Unfällen in Deutschland gibt es zwar nicht, da der Deutsche Alpenverein seine Bergunfallstatistik nur alle zwei Jahre und für seine Mitglieder bekannt gibt, doch die Berichte über Unfälle in den Gebirgen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien häufen sich.
„Das Bergsteigen ist wegen des Klimawandels anspruchsvoller geworden“, nennt Rolf Sägesser, Fachleiter Ausbildung Sommer beim Schweizer Alpen-Club SAC, einen möglichen Grund für die vielen Unfälle. Der Permafrost, der das Gelände und die Felsen stabilisiert, schwinde stetig. „Wir beobachten, dass die Bergsteiger mit dieser neuen Herausforderung nicht so vertraut sind.“
Diese Beobachtung bestätigt auch Anton Vogg, Bereitschaftsleiter der Bergwacht Grainau. An der Zugspitze hätten sich durch das Schmelzen des Gletschers „die Bedingungen krass verändert“. Die Zugspitze ziehe als sehr bekanntes Ziel auch Leute an, die ohne ausreichend Vorbereitung in den Berg steigen. „Zusätzlich stimmen oft die Beschreibungen im Internet nicht mehr, weil sie veraltet sind. Die Randkluft zum Klettersteig hin ist nun eine Herausforderung.“ Die Randkluft beschreibt bei einem Gletscher oder Schneefeld den am oberen und seitlichen Rand oft vorhandenen, tiefen Spalt zwischen Eis und Fels.
An der Zugspitze hatten Vogg und sein Team „allein in zehn Tagen bei sehr schlechtem Wetter sechs große Einsätze, mit Helikopter und terrestrisch, das war sehr fordernd. Es war immer wieder schlechtes Wetter angesagt – und trotzdem waren so viele Leute unterwegs.“ Vor 20 Jahren seien es 50 Einsätze im Jahr gewesen, erinnert sich Vogg, „mittlerweile sind es 100“. Aber es seien so viel mehr Menschen unterwegs, da passiere schlicht mehr am Berg.
Im vergangenen Juni zog die Sonne viele in die Berge; doch zum Monatswechsel schlug das Wetter schlagartig um. Diesen extremen Wechsel hätten viele unterschätzt, so Sägesser, der in der Schweiz Menschen aus Notsituationen rettet. Eine Frage, die sich stellt: Wie kann es sein, dass trotz der präzisen Vorhersagen so viele vom Wetter überrascht werden? Sägessers Antwort ist vielsagend. Man müsse die Prognosen auch interpretieren können. „Die Leute haben viele Apps, dann sehen sie auf dem Icon Sonne, Regentropfen, Wolken. Aber was das für ihre Höhenlage bedeutet, da gibt es noch ein großes Vakuum“, warnt der Experte.
Das sieht sein deutscher Kollege Vogg ähnlich: „Die Informationsmöglichkeiten werden immer besser, aber die Menschen nutzen die Quellen immer schlechter. Sie schauen sich nur die Piktogramme an. Aber sind die Wolken über dem Gipfel oder auf dem Gipfel? Muss ich vielleicht sogar in der Wolke aufsteigen, im Nebel? Dann ist alles nass, kalt und rutschig.“
Vogg empfiehlt dringend, Bergwetterberichte zu lesen, und zwar „auch den Text“. Diese veröffentlichen unter anderem der Alpenverein oder die Meteorologen in Innsbruck. Darin erkenne man ziemlich genau, welcher Wind in welcher Höhenlage zu erwarten ist – und wo die Schneefallgrenze liegt.
Jeder Einsatz ist auch eine Geduldsprobe für die Retter. Vogg ist seit 20 Jahren bei der Bergwacht. Vergangene Woche sei er das erste Mal unfreundlich geworden, erzählt er. „Wir hatten einen großen Einsatz bei wirklich schlechtem Wetter. Der Gerettete sagte, der Regen sei so plötzlich gekommen … Ähm, nein! Es hatte seit dem Morgen durchgeregnet!“
Christian Eder, Leiter der Akademie der Bergrettung Tirol, registriert ebenfalls zunehmend mehr Unfälle. Auch, weil Menschen sich für die Berge begeistern. „Bergsport boomt, und zwar alle Spielarten. Wandern, Mountainbiken, Klettern, Hochtouren“, so der österreichische Bergretter. Beim Wandern führe die schiere Quantität zu vermehrten Unfällen, etwa an den populären Höhenwegen in Tirol.
„Diese Touren schätzen viele falsch ein. Das klingt wie eine einfache Wanderung von Hütte zu Hütte“, erklärt der erfahrene Bergretter. „Aber manche Passagen sind doch eher Bergsteigen, inklusive Absturzgefahr, die tödlich ausgehen kann. Wenn beim Wandern Unvorhergesehenes dazukommt, das Wetter, die Verhältnisse, zu wenig Kondition, dann kommt es zu Notlagen.“
Grundsätzlich, so Eder, gelte, dass dem besten Profi etwas passieren könne. „Aber ein Kletterer oder Hochalpinist weiß recht genau, was er oder sie da macht, kann Gefahren einschätzen.“ Laien trotz Profi-Ausrüstung eben nicht unbedingt.
Woher weiß man überhaupt, ob man für einen Aktivurlaub in den Bergen geeignet ist? Rolf Sägesser rät dringend, bei gewissen Vorerkrankungen genau abzuwägen. Schwierig seien Herz-Kreislauf- und schweren Lungen- oder bestimmten Stoffwechselerkrankungen. Auch psychische Erkrankungen, die Schwindel oder Höhenangst auslösen können, können für einen extremen Bergtrip problematisch sein. Stattdessen empfiehlt der Experte, sich langsam an größere Touren heranzutasten. „Lieber in tieferen Lagen beginnen und sich selbst dabei kennenlernen: Wo sind meine Grenzen, welche Fähigkeiten habe ich?“
Besonders in höheren Lagen könne sich eine Überforderung fatal auswirken. Deshalb biete der SAC spezielle Kurse für das Alpinwandern an. „Da geht es in wegloses Gelände, man braucht Trittsicherheit und Orientierung. Und vor allem eine gute Entscheidungsfähigkeit“, betont Sägesser.
Anton Vogg beobachtet regelmäßig, dass die Sicherheitsmechanismen nicht ausreichend funktionierten. „Wenn man unterwegs in den Schnee kommt, oder in Dauerregen – dann sollte man in der Situation immer innehalten und neu nachdenken.“ Viele Wanderer oder Bergsteiger überschätzten auch ihre Fähigkeiten im Hinblick auf Kondition. Der Freizeitdruck sei groß.
„Die Hütten sind auf Monate ausgebucht, da will man dann eben hin. Ich kann das in gewisser Weise auch nachvollziehen.“ Aber eines möchte er den Menschen doch mit auf den Weg geben: „Man hat schon im Alltag so viel Stress. Den Berg sollte man doch genießen, mal entschleunigen. Wenn es stürmt, dann kann man auf einer Hütte einkehren, einen Kuchen essen und im Regen wieder hinauslaufen. Das kann auch ein schöner Tag gewesen sein. Muss es immer der Gipfel sein?“
Gleichwohl bemühen sich die Bergretter immer auch um Verständnis für Menschen, die in den Bergen in Notsituationen geraten. Auch, weil bei jedem Medienbericht viele Kommentatoren auf Social Media durchdrehen würden, wie es Vogg beschreibt. „Jeder macht doch mal riskante Sachen in seinem Leben. Und Fehler. Einer kommt ins Krankenhaus, weil er sein ganzes Leben lang geraucht oder zu viel gegessen hat. Was da im Internet abgeht, das ärgert mich.“
Auch Christian Eder aus Tirol findet klare Worte: „Leute beschimpfen, so etwas gehört sich nicht, das ist unwürdig. Sich über Menschen, die verletzt oder gar gestorben sind, herzumachen. Es kann einfach Pech sein, das kann den Besten passieren.“ Wenn ihm einmal der Kragen platze, dann genau deswegen. „Wenn diese Laptop-Bergsteiger, die nie unterwegs sind, mit ihrer Besserwisserei die Verunglückten verurteilen.“
Für Sägesser haben die sozialen Medien insgesamt einen negativen Einfluss auf das Bergsteigen. Der Respekt vor den Bergen gehe durch die sozialen Medien verloren. „Sei es mit Beschimpfungen, aber auch durch das Posten von Touren. Das beeinflusst manche, Touren unabhängig von den persönlichen Fähigkeiten zu unternehmen“, ärgert er sich.
Der Tod in den Bergen ist übrigens überwiegend männlich. Im Jahr 2024 sind 309 Menschen in Österreichs Bergen ums Leben gekommen. 269 Männer (87 Prozent) und 40 Frauen (13 Prozent) sind tödlich verunglückt. Sägesser weiß, dass grundsätzlich mehr Männer unterwegs sind. „Der Mann geht grundsätzlicher ein höheres Risiko ein, was auch mit der Überschätzung der eigenen Fähigkeiten zu tun hat. Die Frau ist oft ängstlicher, kritischer und entsprechend defensiver unterwegs.“
Wann soll man in den Bergen die Rettung rufen? Lieber einmal zu oft, als zu wenig, rät Sägesser eindringlich. Man solle anrufen, „wenn man nicht mehr handlungsfähig ist, und wenn unmittelbar eine Gefahr für Leib und Leben besteht. Natürlich geht es aber um eine Sorgfaltspflicht bei der Überlegung.“ Auch die Tiroler Kollegen sagen, man solle keine Scheu haben. „Heute kann man per Handy den genauen Standort durchgeben. Manchmal können wir sogar per Telefon helfen, können gut zureden, die Hütte ist nicht mehr weit. Dann sind die Leute beruhigt, dann geht es wieder weiter, solange keiner verletzt ist“, sagt Eder.
Bergretter Vogg aus Bayern versichert, der Helikopter komme eben, „wenn es diese Notlage erfordert. Das kostet nichts.“ Es sei denn, Menschen missbrauchten die Bergrettung als Freizeitvergnügen. Vogg erinnert sich an einen Fall, bei dem ein Wanderer seine Absichten im Gipfelbuch verewigte: „Wir sind oben, zurückgeht es mit dem Heli“. In solchen Fällen könne es teuer werden. „Vortäuschung einer Notlage. Das kostet schnell mal 10.000 Euro“, warnt er Nachahmer.
In der Schweiz habe es zuletzt nicht überdurchschnittlich viele Einsätze gegeben, sagt Rolf Sägesser. Und wenn man die Verhältnismäßigkeit betrachte, „geschehen heute nicht mehr Unfälle als in den Neunzigerjahren. Eher weniger.“ Die Frage sei auch, so der Schweizer, wie einzelne Bergunfälle medial aufbereitet würden. „Die vielen Autounfälle seien nicht so präsent in den Medien.“
Warum es zu einem Unfall kam, das interessiert alle Retter erst mal nicht. Vogg schildert es so: „Wir retten, danach reden wir. Und oft kommt dann auch die Einsicht: ‚Ja, wir waren wirklich richtig blöd.‘“ Aber es sei einfach so: „Wenn einer in Not ist, muss man ihm helfen. Ich kann ihn ja nicht oben liegen lassen. Die Gründe für die Notlage sind zweitrangig. Wir sind dafür da, ihn wieder heil ins Tal herunterzubringen. Wir sind Retter, keine Richter.“
Am Schweizer Lagginhorn kam es erst am letzten Juli-Wochenende wieder zu einer dramatischen Nachtrettung. Vier Alpinisten trauten sich im Schneesturm nicht weiter. Per Telefon wurden die vier aufgefordert, aufzusteigen, „eine Entscheidung über Leben und Tod“. Die Air Zermatt setzte in mehreren Flügen acht Rettungsspezialisten auf über 3000 Metern ab. Alle wurden gerettet.
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